Die Möwe auf dem Stein
Die Möwe sitzt auf dem Stein. Sie wartet. Auf was? Dass ein Fisch vorbei kommt und ruft: „friss mich!“ Sie schaut. Leicht irritiert von den grölenden Menschen am Strand. Denkt nicht. Beobachtet nur. Fühlt sich sicher auf dem Stein. Wenn eine große Welle kommt und über den Stein schwappt, hat sie die Möglichkeit, ihre Flügel auszubreiten und in den Himmel zu entgleiten. Sie kann abwägen, gefällt es mir hier? Ist es sicher? Ist es schön? Gibt es hier noch etwas zu tun oder zu sehen für mich? Oder gar ein günstiges Häppchen? Sie ist ganz im Moment. Was brauche ich jetzt? Was will ich jetzt? Ohne zu überlegen, was morgen sein könnte. Ja, morgen könnte ein Sturm aufziehen, es könnten dröhnende Wellen an die Felswände geschmettert werden und zackige Blitze in das Meer einfahren – und wenn es so wäre, müsste sich die Möwe einen anderen, ruhigen Ort suchen, Schutz, um das Gewitter zu überstehen. Aber darum macht sie sich heute noch keine Gedanken. Heute strahlt doch die Sonne. Heute plant die Möwe noch nicht, wo sie morgen sein wird. Und viel wichtiger: heute hat sie noch keine Angst davor, dass morgen vielleicht ein Gewitter sein könnte. Keine Angst vor dem Morgen. Es könnte ja auch schön sein. Es ist egal. Heute ist es schön. Die Möwe lebt im Gefühl, dass das Leben gut für sie sorgt – und: „Schnapp“ – da hüpft ein Fisch aus dem sprudelnden Wasser und die Möwe braucht nur mehr zuzuschnappen und kann satt fort fliegen.
– Andrea Stöger –